Die an sich interessanten Ausführungen unter dem Titel „Die europäische Kultur wurzelt im Mittelalter (Rhein-Neckar-Zeitung RNZ vom 26.10.) sind in der quinta essentia „Das Mittelalter ist die Basis der europäischen Kultur“ zu einfach, zu absolut. Die europäische Kultur war, ist, wird sein: ein Prozess. Zudem – sie hat verschiedene Wurzeln, eine – nur eine – davon ist das Mittelalter. Tiefer wurzelt jedoch die europäische Kultur in der griechischen und in der römischen – sowie in der arabischen Kultur. Im kritisierten Artikel wird die griechische Wurzel auf den Begriff der Demokratie, die römische Wurzel auf die Rechtsordnung beschnitten. Da macht sich der Autor des Artikels die Sache schon zu einfach. Seine Absicht ist ja klar, das Mittelalter, das ist „Die Wurzel der europäischen Kultur“.
Der Autor, ein Professor der Universität Heidelberg, meint, dass „uns von all dem (griechischen und römischen) fast nichts überliefert worden wäre, wenn sich nicht die Gelehrten des Mittelalters dieser antiken Wissens- und Wissenschaftstradition intensiv angenommen hätten.“ Dazu ist zu bemerken: Im frühen Mittelalter ging das Wissen über die griechische und römische Kultur in „Europa“ fast vollständig verloren. Es waren die arabischen Gelehrten, die römisches und griechisches Wissen aufgenommen, gepflegt und entwickelt und – über Spanien – an das dürftige und durstige „Europa“ zurückgegeben haben; ergänzt und erweitert durch arabische Eigenleistungen und von den Chinesen übernommenes Wissen – ab dem 8. Jahrhundert, Averroes (Ibn Ruschd, 1126 – 1198), bis zum Fall von Granada 1492, des letzten arabischen Besitzes, Bollwerkes in Westeuropa.
Der Autor widerspricht sich selbst: Er schildert, wie „gebildete Mönche tausende von antiken Texten, die auf brüchigem Papyrus geschrieben waren, auf haltbares Pergament übertrugen“ (die auch gelesen und diskutiert und rezipiert wurden), wie sich aus dem klassischen Latein die lateinische Hochsprache der mittelalterlichen und neuzeitlichen Gelehrtenwelt entwickelte, usw. Ja, was ist das denn anders, als eine Übernahme lateinischer und griechischer Texte, Gedanken und Erkenntnisse – philosophischen, literarischen und wissenschaftlichen Inhalts – aus dem Altertum – „Der Wurzel der europäischen Kultur“ – ins Mittelalter?
Zutreffend schildert der Autor, dass heutige Dörfer und Städte mit ihrer topographischen Grundstruktur im Mittelalter entstanden sind; dies trifft zu für den Teil Europas, der nicht von den Römern zivilisiert worden ist, das heißt für den größten Teil Deutschlands. Anders aber ist die Situation im westlichen Teil Europas und in der Schweiz.
Das „Licht der Vernunft“ ist, so der Autor, keineswegs eine Erfindung der Aufklärung, sondern der Scholastik des 11. und 12. Jahrhunderts. Nun –„ die Scholastik des christlichen Abendlandes (6. bzw. 9. bis 15. Jahrhundert) war dadurch gekennzeichnet, dass die Grundlage für Wissenschaft und Philosophie von den christlichen, in den Dogmen(!) niedergelegte Wahrheiten(?) gebildet wurde. Die Früh-Scholastik (9. bis 12. Jahrhundert), auf die sich der Autor bezieht, steht auf dem Boden eines noch ungegliederten Ineinander von Wissenschaft, Philosophie, Theologie.“ (Philosophisches Wörterbuch. Körner). Kurz und gut: Die Scholastik war religiös befangen. Der Autor erwähnt die Gelehrten, die daran gingen der Wahrheit in allen Lebensbereichen und in der Natur auf den Grund zu gehen. Schön und gut. Er erwähnt aber nicht den über allen und allem lastenden Druck der katholischen Kirche und ihrem Vollzugsorgan, der Inquisition. Giordano Bruno 1548-1592 wurde verbrannt, da er die Unendlichkeit des Weltalls postuliert hatte; Galileo Galilei musste seine Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes widerrufen. (Schon im Altertum war bekannt, dass die Erde sich um die Sonne und nicht die um die Erde dreht; Aristarchos von Samos, 270 vor unserer Zeitrechnung.)
Zuzustimmen ist dem Autor, wenn er das Mittelalter verklausuliert als Wurzel Europas versteht – in der Intoleranz. Hier nur ein Beispiel: Der böhmische Reformator Jan Hus wurde 1415 auf Geheiß des Konstanzer Konzils verbrannt. Da sei doch erwähnt, „dass selbst in Zeiten der brutalsten Kreuzzüge (Mittelalter) und der Inquisition die monotheistischen Glaubensgemeinschaften sich im muslimischen Machtbereich einer vollen rechtlichen, gerichtlichen und kulturellen Autonomie erfreuten. Die Ausnahmen waren selten. „Fast während der ganzen spanischen Periode“, so steht es im jüdischen Lexikon (Berlin 1929), „genossen die Juden weitgehend Religionsfreiheit. Als sich in Europa im 14. und 15. Jahrhundert die Judenverfolgungen mehrten, waren es wieder die islamischen Fürsten, die den auswandernden (flüchtenden) Juden ihre Länder öffneten““. (Lexikon religiöser Grundbegriffe, marixverlag).
Erst die Renaissance, die Reformation und die nachfolgende Aufklärung öffneten den Menschen Europas den geistigen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kerker des Mittelalters.