F.A.Z. vom 08.03.2012, verfasst von Emel Zeynelabidin (Biografie am Schluss des Artikels)
Mit dem Koran als Massstab und dem Teufel als Zuchtmeister ist es ein Leichtes, über andere zu urteilen, ohne genau hinschauen zu müssen. So sind regelgläubigen Muslimen viele Erfahrungsräume verschlossen, was Frauen mehr trifft als Männer. Etwa der Verzicht auf das Spiel mit Identitäten und Rollen. Eine verhüllte Frau kann nicht spielen, denn sie hat durch ihre Bekleidung nur eine einzige Identität: die der öffentlich erkennbaren muslimischen Frau.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Zahl der Menschen in Europa rapide erhöht, die islamische Wurzeln haben oder zum Islam konvertiert sind. Unübersehbar ist auch die Zunahme islamischer Interessengruppen und Vereine. In Deutschland gehören islamische Organisationen längst zum gesellschaftlichen und politischen Alltag.
Dennoch sind Unkenntnis und Vorurteile über die verschiedenen Lebensarten immer noch weit verbreitet. Viele Muslime haben es bislang nicht geschafft sich so weit zu öffnen und verständlich machen, dass es zu einer Annäherung kommen konnte. Andererseits habe auch die Islamkritiker, die sich unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 oder des angeblich mangelnde Integrationswillens der Muslime gegen den Islam wenden, keineswegs dafür gesorgt, dass sich die wechselseitige Unkenntnis verringert.
Noch immer schließen viele Nichtmuslime von dem Verhalten von „sichtbaren und organisierten Muslimen“ automatisch auf den Islam zurück. Ähnlich verhält es sich interessanterweise mit den viele Muslimen, die im Islam eine klar geregelte Religion sehen und aus den Interpretationen des Korans auf den Willen Gott schließen. Ich behaupte jedoch, dass kein Mensch mit seiner begrenzten Vorstellungskraft jemals erfassen kann, was der Wille Gottes ist. Für einen Gottesgläubigen geschieht nichts ohne den Willen Gottes; und wenn Gott Allmacht und Allgegenwart bedeutet, dann fehlen uns eigentlich verständliche Erklärungen etwa für das Leid und Elend auf unserem Plane ten. Der praktizierende Muslim hat je doch auch dafür eine Erklärung: Leid um Elend gelten ihm als Tilgung von Sünder und als Prüfung seiner Glaubensstärke.
Der Koran, das heilige Buch der Anhänger des Islams, ist für praktizierende Muslime der Ausgangspunkt, um sich mit siel selbst und der Welt auseinanderzusetzen Sie suchen nach Bestätigungen und Erklärungen für die verschiedensten Phänomene, die das Leben zu bieten hat. Nach Überzeugung der Muslime wurde der Koran über 23 Jahre hinweg von Gott übe den Erzengel Gabriel seinem Gesandter Mohammed offenbart, und zwar in „arabischer Sprache, die deutlich ist“ (Sure 26 Vers 194), damit er von Mohammeds Mitmenschen mit Leichtigkeit verstandet werden konnte. Dies war wesentlich, da der Koran eine Reform der überkommenen Gesellschaftsstrukturen und Gottesbilder bewirken wollte. Es war eines der bedeutendsten Verdienste jenes Propheten, die herrschende Vielgötterei zu bekämpfen, um an den einzigen Schöpfer zu erinnern und zudem eine Gesellschaft zu formen, in der Frauenrechte gewürdigt wurden. Zu Zeiten Mohammeds wurden neugeborene Mädchen häufig noch bei lebendigem Leibe begraben, und Frauen waren rechtlos wie Sklavinnen. Von aller Propheten bezeichne ich Mohammed de halb gerne als den Propheten der Frauen
Nach dem Tod des Propheten sind viele Interpretationen der Koran-Verse verfasst worden, um der Nachwelt den Willen Gottes verständlich zu machen. Vor diesen Interpretationen gibt es so viele dass es einer theologischen Rechtswissenschaft bedurfte, um Ordnung zu schaffen Schon bald nach Mohammeds Tod bildeten sich daher sogenannte Rechtsschulen mit jeweils eigenen Auslegungen, den Tafsir. Auf dieser Basis wiederum erlassen heutige Gelehrte ihre Rechtsgutachten, die sogenannten Fatwas. Als ich beispielsweise vor vielen Jahren, als ich selbst noch streng regelgläubig war, zur Kur in ein Müttergenesungsheim fahren wollte, musste ich erst einmal eine Fatwa finden, die es mir als muslimische Frau überhaupt erlaubte, alleine und ohne männlichen Begleitschutz zu reisen.
Heute sehe ich die Dinge aus einer gewissen kritischen Distanz: In der Welt der Muslime wird mit vielen dieser Rechtsgutachten ein Meinungshandel getrieben, wie er vor Jahrhunderten zu Feindseligkeiten zwischen Sunniten und Schiiten geführt hat. Man könnte sogar schon von einer Fatwa-Industrie sprechen, in der einige wenige, nämlich die Gelehrten und Imame, für die Massen von Frommen und Regelgläubigen den Koran zerpflücken und interpretieren. Deren Urteile gelten als moralische Normen mit göttlicher Verpflichtungskraft und wollen eindeutig regeln, was erlaubt und was verboten ist. Dabei spielt es meistens keine Rolle, ob diese Koran-Interpretationen von den Gläubigen genau verstanden werden. Massgeblich ist allein der einfache und universell verinnerlichte Anspruch an einen Muslim, religiöse Normen und Rituale a sehr alten Zeiten in der Gegenwart befolgen zu müssen, um für ein gottgefälliges Leben im Diesseits eine reiche Belohnung im Jenseits zu erhalten. Was hier seit Jahrhunderten praktiziert wird, et scheint aus heutiger Sicht als Konditionierung, mit der Herrschaft über die Ansichten und Vorstellungswelten von Menschen ausgeübt wird.
Der Katalog von eindeutig erlaubte und eindeutig verbotenen Dingen – richtig und falsch, gut und böse – kann aber sehr einschränkend und auch manipulierend sein. Dabei wird dem Teufel als Verkörperung des Bösen und als verführerischer Macht eine erhebliche Bedeutung zugemessen. Als ich vor Jahren zum ersten Mal in meinem Leben in emotional Turbulenzen geriet, konnten sich einige meiner Familienangehörigen in Anlehnung an Bilder aus ihrem Koranverständnis mein verändertes Verhalten nur damit erklären, dass ich vom Teufel besessen sein müsste. In dieser Phase legte ich allmählich meine Verhüllung ab und begann, viele Fragen zu stellen, um genauer zu verstehen, woran ich eigentlich glauben sollte. Über die Reaktion meiner Familie und ihre enge und absolut unzutreffende Sichtweise auf meinen Zustand war ich schockiert: Etwas, das mit Liebe zu tun hatte, wurde dem Teufel zugeschrieben! Dass aber Verhaltensänderungen auch Ergebnis von inneren und vollkommen natürlichen Prozessen sein können, interessierte dagegen wenig.
Mit dem Koran als Massstab und dem Teufel als Zuchtmeister ist es ein Leichtes, über andere zu urteilen, ohne genau hinschauen zu müssen. Gefährlich an dieser Methode der Konditionierung ist, dass mit Interpretationen gezielt Feindbilder bekräftigt und sogar zu Gewalthandlungen im Namen eines Gottes aufgerufen werden kann. So finden Kontrolle, Gehorsam und Routine ihren Einzug in das Leben religiöser Männer und Frauen, ohne dass die psychischen Folgen für deren Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaftsfähigkeit bedacht werden. So sind regelgläubigen Muslimen viele Erfahrungsräume verschlossen, was Frauen mehr trifft als Männer. Ich denke dabei an den Verzicht auf das Spiel mit Identitäten und Rollen, das eine verhüllte Frau nicht spielen kann, denn sie hat durch diese Bekleidung nur eine einzige Identität: die der öffentlich erkennbaren muslimischen Frau.
In den drei Jahrzehnten, die ich als verhüllte Muslimin gelebt habe, sah ich keinerlei Anlass, den Grund für meine Verhüllung in Frage zu stellen. Sie gehörte einfach dazu. Zu dieser Zeit kannte ich auch keine Ausgrenzung oder Gefahren durch Personen, die wegen meines Kopftuchs in mir vielleicht eine Terroristin gesehen hätten. Heute weiß ich jedoch, dass die Vorschriften, die ich befolgte, nur deshalb für mich Bedeutung hatten, weil im Namen Gottes mit Versprechungen jenseitsorientierte Erwartungen erzeugt und mit Drohungen Ängste geschürt wurden. Immer hieß es, Gott wisse es besser und meine es mit seinen Regelungen gut mit dem Menschen. ,
Es ist mir völlig klar, dass Gott mehr weiss und mehr kann als der Mensch, und ich bin der festen Überzeugung, dass unser Schöpfer es auch gut mit jedem von uns meint. Aber ich brauche keine Vorstellung eines Gottes, die mich in meiner Handlungs- und Denkweise einschränkt. Ich will die Welt mit eigenen Augen sehen, ich will selbst denken, Erfahrungen sammeln und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen, ohne dabei Angst davor zu haben, dass Gott mich für die eine oder andere Entscheidung bestrafen könnte. Gott bedeutet mir heute viel in meinem Leben, Gott überrascht mich mit Fügungen, Gott spendet Trost, wenn ich diesen brauche, auf Gott kann ich mich verlassen, wenn ich in Not gerate.
Wie viel Spielraum aber wird dem Einzelnen in muslimischen Familien und islamischem Religionsunterricht gewährt, wenn es darum geht, als Heranwachsender eigene Vorstellungen über Gott und sein Leben zu entwickeln? Welchen Beitrag leisten dazu vor allem die vielen islamischen Organisationen, die in Deutschland [in der Schweiz] für die Bildung heranwachsender Muslime immer wichtiger geworden sind? Ich möchte erwarten, dass sie den Reformgeist aus dem Islam übernehmen und sich wie eine moderne Menschenrechtsorganisation für die kritische Bildung und Aufklärung der heranwachsenden Generationen einsetzen, vor allem im Interesse der Frauen. Aber in den Vereinen sind Männer in der Überzahl und so dominant, dass sie sich einen Wettbewerb von Machtansprüchen leisten. Auch ohne eine männerfeindliche Feministin zu sein, vermisse ich eine professionelle, gleichberechtigte und vorbildliche Zusammenarbeit von Männern und Frauen gerade in diesen Organisationen. Vielleicht ist es dieses Ungleichgewicht, das dazu verleitet, den Islam als Mittel zum Zweck einzusetzen.
Fortsetzung dieses Artikels; siehe F.A.Z. vom Donnerstag, 08.03.2012
aus Wikipedia:
Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Emel_Zeynelabidin
Emel Zeynelabidin (bis 2008 verheiratete Algan; *1960 in Istanbul) ist eine Aktivistin im interreligiösen Dialog. Sie wurde 2007 bekannt durch die Auszeichnung mit dem Lutherpreis – Das unerschrockene Wort.
Leben
Die in Lehrte undHückeswagen aufgewachsene Zeynelabidin wurde als Tochter einer türkeistämmigen Mutter und des aus dem Irak stammenden Arztes Dr. Yusuf Zeynel Abidin geboren, der in Deutschland die Sektion der türkischen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş e.V. (IGMG) gründete. Sie war ehrenamtlich tätig im Islamischen Frauenverein Cemiyet-i Nisa e.V., der 1987 den ersten islamischen Kindergarten in Deutschland gründete. Zwei Jahre später wurde der Trägerverein Islam Kolleg Berlin e.V. gegründet, um die erste islamische Privatschule zu eröffnen. Dort war sie Vorstandsmitglied bis 1995. Die in Berlin-Kreuzberg gelegene Islamische Grundschule wurde 1995 von der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport als Privatschule anerkannt. 1995 wechselte Zeynelabidin in den Vorstand des Islamischen Frauenvereins Cemiyet-i Nisa e.V., in dem sie bis 2005 ehrenamtlich am Aufbau der vier senatsgeförderten Kindergärten aktiv mitwirkte. Emel Zeynelabidin hat nach ihrem Abitur geheiratet und bekam sechs Kinder.
Auseinandersetzung und Aussagen zum islamischen Kopftuch
2005, ausgelöst durch den sogenannten Kopftuchstreit legte sie nach einem intensiven Prozess der Auseinandersetzung mit den islamischen Quellen ihre Kopfbedeckung ab und ging in die Öffentlichkeit. Bei ihren Recherchen in der Literatur über die immer wieder herangezogenen Verhüllungsverse im Koran stößt sie auf die entsprechenden Offenbarungsgründe, die den zeitlichen, kulturellen und geographischen Kontext dieser Offenbarung erklären. Die gläubigen Frauen sollten sich verhüllen, weil die Männer zur Entstehungszeit des Islam ein Problem damit hatten, bei ihren Belästigungen diese von den Sklavinnen zu unterscheiden, und zweitens, weil diese Männer eine Schwäche für weibliche Reize hatten, mit der sie nicht zurechtkamen. Zeynelabidin behauptet, dass es heute diese Sklavinnen nicht mehr gebe und das Verhältnis der Geschlechter sich verändert habe. Dadurch kommt sie zu dem Schluss, dass diese Verhüllung der Frauen eine in Zeit und Raum eingebundene praktische Maßnahme für die Männer der damaligen Zeit war, und nicht etwa eine Frage von Religion. Sie vertritt die Auffassung, dass erst mit der Einführung der Scharia durch Gelehrte Empfehlungen aus dem Koran zu religiösen Pflichten erklärt wurden, die heute für alle Gläubigen bindend sind. Seitdem nimmt sie an der Debatte teil, hält Vorträge zum Thema und publiziert Texte, um ihre Sicht zum Kopftuch und reformbedürftigen Religionsverständnis des Islam als Diskussionsbeitrag darzulegen. Zeynelabidin hält das Kopftuch für eine kollektive Verordnung von uniformer Identität, für einen Betrug an der Weiblichkeit, und für eine eklatante Infragestellung der Würde von Männern. Es legt eine moralische Schamhaftigkeit bei Frauen fest, die in ihre natürliche Persönlichkeitsentwicklung eingreift. Sie unterscheidet zwischen regelgläubigen und gläubigen Muslimen und bezeichnet sich selbst als gläubige Muslimin, für die der Glaube an Gott im Mittelpunkt steht und keiner demonstrativen Äußerlichkeiten bedarf. Für Zeynelabidin ist das hierarchische Gottesbild der Christen und Muslime eine zweckdienliche Erfindung, um diese patriarchalen Vorstellungen durchzusetzen, die sich bis heute gehalten hat und unbedingt reformiert werden muss.
2006 erlangte sie größere Bekanntheit durch die Übergabe ihrer Kopftücher an das Haus der Geschichte in Bonn. Im April 2007 erhielt Algan in Speyer den Preis der Lutherstädte „Das unerschrockene Wort“.
Dokumentarfilm
Die Schweizer Filmemacherin Maria Müller stellte 2010 ihren Dokumentarfilm mit dem Titel Hüllen vor, der Emel Zeynelabidins Familiengeschichte und ihr Leben zum Inhalt hat. Der Film erhielt eine Lobende Erwähnung im Wettbewerb Dokumentarfilm beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2011 in Saarbrücken. Im April 2011 kam er in die Kinos.
Rhoenblicks Kommentar:
Allen drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – wohnt eine Intoleranz, ein Gefühl von Unfehlbarkeit inne.
Gewisser Parallelen zum Katholizismus, vor allem zum Katholizismus vor der Reformation kann ich mich nicht erwehren. Statt Gelehrten bestimmt letztendlich der Papst, was zu glauben ist:
Unfehlbarkeitsdogma der römisch-katholischen Kirche
Aus Wikipedia:
Links: http://de.wikipedia.org/wiki/Unfehlbarkeit , http://de.wikipedia.org/wiki/Päpstliche_Unfehlbarkeit
Grundlagen und Definitionen
Die kirchenamtliche, geistliche Unfehlbarkeit bezieht sich nur auf als letztgültig (unwiderruflich) proklamierte Glaubens- (oder Moral-) Lehrentscheidungen. Sie wurde mit dem Konzilsdekret Pastor Aeternus auf dem Ersten Vatikanischen Konzil am 18. Juli 1870 unter Papst Pius IX. selbst als (unfehlbarer) Glaubenssatz verkündet. Die Definition lautet:
„Zur Ehre Gottes, unseres Heilandes, zur Erhöhung der katholischen Religion, zum Heil der christlichen Völker lehren und erklären wir endgültig als von Gott geoffenbarten Glaubenssatz, in treuem Anschluss an die vom Anfang des christlichen Glaubens her erhaltene Überlieferung, unter Zustimmung des heiligen Konzils: Wenn der Römische Papst in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, das heißt: wenn er seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen waltend in höchster apostolischer Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glauben oder Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so besitzt er aufgrund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren ausgerüstet haben wollte. Diese endgültigen Entscheidungen des Römischen Papstes sind daher aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich. Wenn sich jemand — was Gott verhüte — herausnehmen sollte, dieser unserer endgültigen Entscheidung zu widersprechen, so sei er ausgeschlossen.“
Nur wenn in aller Form (ex cathedra) eine Glaubensüberzeugung zum Dogma erklärt wird, gilt diese als verbindlich und irrtumsfrei. Es können jedoch nur solche Glaubensüberzeugungen als „festzuhalten“ zum Dogma erklärt werden, die nicht im Widerspruch zur Bibel und zur apostolischen Tradition stehen, wie sie in der katholischen Kirche geglaubt (sensus fidei) werden. Die Intention der päpstlichen Unfehlbarkeit ist also, dass der Papst bei einem Streit innerhalb der Kirche das „letzte Wort“ hat. Das Unfehlbarkeitsdogma darf nicht als Freibrief für willkürliche Erfindungen interpretiert werden.
Als unfehlbar gilt nur die dogmatische Aussage, die mit der Formel definimus et declaramus (oder vergleichbaren Formulierungen) eingeleitet wird; es gibt keine Pflicht, auch die theologischen und historischen Begründungen und weitergehenden Ausführungen innerhalb des Dokuments, in dem ein Dogma definiert wird, zu glauben.
Anwendung des Dogmas
Verglichen mit den Kontroversen, welche die Verkündung des Dogmas 1870 hervorgerufen hat, ist seine praktische Bedeutung sehr gering. Nur einmal hat ein Papst, Pius XII., seither davon Gebrauch gemacht, als er 1950 mit dem Schreiben Munificentissimus Deus die leibliche Himmelfahrt Marias verkündete. Von den vorherigen Lehrakten der Päpste gilt stets das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Pius IX., 1854) und fast immer auch die Bulle Benedictus Deus über die sofortige beseligende Gottesschau der Heiligen (Benedikt XII., 1336) als unfehlbar.
Sein Nachfolger, Johannes XXIII., hat sogar zu Beginn seiner Amtszeit erklärt, dass er nicht beabsichtige, von dem Dogma weiteren Gebrauch zu machen. Als Kandidat für die nächste Dogmatisierung eines Glaubensartikels galt gerüchteweise die Coredemptrix-Formel, die Maria neben Christus zur „Miterlöserin“ erklären soll. Allerdings hat sich Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Kardinal gegen ein solches Dogma ausgesprochen. Darüber hinaus gelten solche Dogmatisierungen, wie die Dogmen der unbefleckten Empfängnis und der Aufnahme Mariens in den Himmel, heute vielen als nicht opportun, zumal sie auch dem ursprünglichen Sinn dogmatischer Definitionen nicht entsprechen, in einer aktuell heftig umstrittenen Glaubensfrage eine verbindliche Entscheidung herbeizuführen. Allerdings hat Papst Paul VI. anlässlich des Konzils 1964 die Jungfrau Maria zur Mater Ecclesiae proklamiert, zur „Mutter der Kirche“. Das zeitgleich beschlossene Schlusskapitel von Lumen Gentium enthält nach Auffassung von Papst Johannes Paul II. alle wesentlichen Aussagen zu Maria, so dass mit weiteren Dogmen, die nurmehr „schmückende Wirkung“ hätten, nicht mehr zu rechnen ist.