F.A.Z. vom 27.05.2013; verfasst von Jürgen Dunsch, Zürich; Link: http://www.faz.net/e-paper/#FAZ/2013-05-27
Die Schweizer schätzen die deutschen Nachbarn, aber sie fürchten sie auch ein wenig.
Seit Mitte des Monats läuft in den Schweizer Kinos der Film „Der große Kanton“. Die „satirische Dokumentation“ des landesweit bekannten Kabarettisten Viktor Giacobbo spießt – unter der These eines Beitritts der Bundesrepublik zur Eidgenossenschaft – das Verhältnis beider Länder auf.
Der Streifen spielt außerhalb der Realität. Aber er lässt tief blicken in Schweizer Befindlichkeiten. In Umkehrung der echten Kräfteverhältnisse löst er die Beziehungen zum Nachbarland, die durch Käufe gestohlener Bankdaten, Fluglärmstreit und EU-Forderungen angeschlagen sind, mit einem eleganten Kniff: großer Konsens statt tiefen Konflikts. Das sagt den Schweizern innerlich zu. Zugleich birgt die Beitrittsthese indirekt eine Anerkennung der Attraktivität und der Rolle der Schweiz gegenüber der dominierenden Wirtschaftsnation in Europa. Trotz oder gerade wegen der kulturellen Nähe beider Länder befindet sich die Alpenrepublik, jüngst befördert durch die starke Einwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte aus dem Norden, nämlich in einer permanenten Lauerstellung. Die Deutschen werden geschätzt, aber auch etwas gefürchtet. Die überhebliche „Kavallerieattacke“ des SPD-Spitzenpolitikers Peer Steinbrück verdrießt die Schweizer bis heute. Sie war auch deswegen unpassend, weil die Schweizer in Deutschland eigentlich einen guten Ruf genießen, unrühmliche Vergangenheit als Steueroase hin oder her.
Die Nähe zumindest zwischen der Deutschschweiz und dem Nachbarn jenseits des Rheins in Sprache, Kultur, in wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen täuscht leicht über Unterschiede hinweg, die sich in erster Linie im Staatsverständnis äußern. Die Gesetzestreue ist in der Schweiz ein Angebot des Souveräns, nicht ein Anspruch des Staates. In den Volksabstimmungen können die Bürger über fast alles einschließlich der Steuersätze entscheiden, und sie weisen zuweilen Regierung, Parlament und Parteien in die Schranken. Steuererklärungen sind keine Ausforschungsprotokolle, sondern Willenserklärungen der Steuerpflichtigen.
Das Verhältnis zu Deutschland ist heute eingebettet in die Beziehungen zur Europäischen Union. Das Nachbarland wird damit Teil jener in der kleinen Schweiz so empfundenen Monsterbürokratie, deren 40000 Beamte von Brüssel aus nach steter Zentralisierung und klammheimlicher Quasimitgliedschaft des weißen Flecks auf der EU-Landkarte trachten. Die Schweiz, obwohl vielfach gebrandmarkt als „Rosinenpicker“, leistet durchaus europäische Beiträge. Sie hilft den neuen EU-Ländern in Osteuropa mit der „Kohäsionsmilliarde“, treibt die mitteleuropäische Bahnverkehrsachse im Gegensatz zu Deutschland und Italien mit dem Bau des neuen Gotthard-Basistunnels voran und ist Ziel von Arbeitsuchenden aus den Krisenländern Südeuropas. Die Schweiz profitiert davon, aber auch ein Dank des EU-Zahlmeisters Deutschland wäre angemessen.
Vor diesem Hintergrund kann man sich leicht vorstellen, welch Balsam der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang am vergangenen Wochenende in Bern brachte. Getragen wurde die Visite von dem fertig ausgehandelten Freihandelsabkommen zwischen beiden Ländern, dem ersten des Handelsriesen mit einem Land Europas, abgesehen von Island. Die EU ist davon weit entfernt: Selbst ein Investitionsschutzabkommen lässt auf sich warten, und die direkten Handelsbeziehungen stehen vorläufig unter dem schlechten Stern möglicher Strafzölle gegen Solarmodule aus China. Während die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die Schweiz mit allerlei Forderungen bedrängen, wird sie von dem kommunistischen Land als Türöffner nach Europa hofiert. Dies beruht auf Gegenseitigkeit. So hatte die Eidgenossenschaft mit als erstes Land schon 1950 diplomatische Beziehungen mit Peking aufgenommen. Ob dies in dem Freihandelsabkommen bei den heiklen Fragen Menschenrechte, Umwelt, Arbeitnehmerschutz und Patente in China viel hilft, wird erst die Veröffentlichung des Vertragstextes zeigen.
Sie verstehe das „putzige kleine Bergvolk“ nicht immer richtig, sagte in der Film-Satire die Literaturkritikerin Elke Heidenreich. Die Schweiz, obgleich die Nummer 19 unter den stärksten Wirtschaftsnationen der Welt, kann im Zweifelsfall nur begrenzt wirtschaftliche Muskeln spielen lassen. Als Ersatz dient eine Diplomatie der vielen Windungen und Wendungen. Die Vorlage hierzu kommt aus dem Inland; dort gestaltet sich die politische Entscheidungsfindung inklusive Volksabstimmungen gleichfalls ausgesprochen zäh. Die Schweiz tut gut daran, ihre Chancen außerhalb der EU wahrzunehmen. Aber sie sind eine Ergänzung, kein Ersatz. Gerade die beiderseitige Verflechtung über den Rhein ist hoch. Wenn, wie im vergangenen Jahr, die Einfuhren der Schweiz aus der Bundesrepublik um mehr als 7,5 Prozent schrumpfen, sollte dies den beiden Partnerländern zu denken geben. Das Handelsvolumen mit Deutschland beträgt nämlich immer noch mehr als das Fünffache des Wertes zum Beispiel mit China.
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