t-online, 17.02.2012, 09:50 Uhr; Quelle: dapd
Link: http://nachrichten.t-online.de/bundespraesident-christian-wulff-steht-offenbar-vor-ruecktritt/id_54079124/index
Nach dem beispiellosen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Bundespräsident Christian Wulff wird die Luft für das Staatsoberhaupt immer dünner. Selbst in der schwarz-gelben Koalition schwindet der Rückhalt für Wulff. Der Bundespräsident will sich um 11 Uhr im Schloss Bellevue erklären. Kanzlerin Angela Merkel sagte ihre für Freitag geplante Italien-Reise ab und kündigte eine Stellungnahme für 11.30 Uhr an.
„Ich glaube, das war’s“, zitiert „Die Welt“ ein Mitglied der FDP-Führung. Schleswig-Holsteins Vizeministerpräsident, Sozialminister Heiner Garg sagte den „Kieler Nachrichten“: „Auch aus Verantwortung gegenüber dem höchsten Amt muss Christian Wulff jetzt die Konsequenzen ziehen.“
„Er muss jetzt seine Schlüsse ziehen“
Der Vorsitzende der niedersächsischen CDU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Grosse-Brömer, sagte der „Mitteldeutschen Zeitung“: „Der Bundespräsident muss jetzt seine Schlüsse ziehen.“ Unionsfraktionsvize Michael Meister ging im Berliner „Tagesspiegel“ davon aus, das Wulffs Immunität aufgehoben wird. „Die Frage ist dann, ob Christian Wulff glaubt, damit umgehen zu können, das muss er aber selbst beantworten.“
Auch mehrere CSU-Vorstandsmitglieder rechnen mit einem Rücktritt des Bundespräsidenten. Wulff werde sich angesichts dieser neuen Entwicklung wohl kaum noch im Amt halten können, hieß es übereinstimmend von mehreren CSU-Vorständen. Angesichts eines Ermittlungsverfahrens werde das Staatsoberhaupt um einen Rücktritt kaum herumkommen. „Unvorstellbar, ein Bundespräsident, der zum Staatsanwalt muss“, sagte ein CSU-Vorstandsmitglied.
Mögliche Ermittlungen wegen Vorteilsannahme
Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte nach einer Mitteilung vom Donnerstagabend beim Bundestag die Aufhebung der Immunität beantragt, um gegen Wulff wegen Vorteilsannahme und -gewährung ermitteln zu können. Die Staatsanwaltschaft hatte mitgeteilt, nach umfassender Prüfung neuer Unterlagen und weiterer Medienberichte gebe es gegen den früheren niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten nun einen Anfangsverdacht im Zusammenhang mit Kontakten zum Filmfonds-Manager David Groenewold. Auch gegen Groenewold wird ermittelt.
Der Manager hatte mit Wulff 2007 auf Sylt Urlaub gemacht und dabei die Hotelkosten zunächst bezahlt; Wulff will den Betrag später in bar beglichen haben. Die niedersächsische Landesregierung hatte einer Firma Groenewolds knapp ein Jahr zuvor eine Millionen-Bürgschaft gewährt – die aber nie in Anspruch genommen wurde.
Bundestag müsste Aufhebung noch zustimmen
In der SPD wird Wulffs Rücktritt nun offen und direkt gefordert, nachdem ihm dieser wochenlang nur nahegelegt worden war. Das SPD-Vorstandsmitglied Ralf Stegner sagte der „Welt“: „Nun sollte Christian Wulff dem Land und sich einen letzten Dienst erweisen und zurücktreten.“ Generalsekretärin Andrea Nahles befand: „In meinen Augen ist eine staatsanwaltliche Ermittlung mit dem Amt des Bundespräsidenten unvereinbar.“ Die Bundestagsfraktionschefs der Grünen, Renate Künast und Jürgen Trittin, forderten: „In dieser Situation muss der Bundespräsident mindestens sein Amt ruhen lassen – das gilt auch mit Blick auf die Gedenkfeier (für die Opfer der Neonazi-Morde) nächste Woche.“
Erst wenn der Bundestag dem Aufhebungsantrag zugestimmt hat, kann die Staatsanwaltschaft tatsächlich ermitteln. Nötig ist dazu die einfache Mehrheit. Der „Süddeutschen Zeitung“ sagte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann, er rechne mit einer Entscheidung in der übernächsten Woche, wenn der Bundestag zu seiner nächsten regulären Sitzung zusammentritt. Nahles kündigte an, die SPD werde geschlossen für die Aufhebung der Immunität Wulffs stimmen. Oppermann sagte der „Passauer Neue Presse“: „Ich erwarte das auch von der Union und der Kanzlerin.“
Selbst in der Union wird mit einer Aufhebung der Immunität Wulffs gerechnet. „Das wäre dann eine völlig neue Situation, die wir noch nie hatten“, sagte Unionsfraktionsvize Meister dem „Tagesspiegel“.
Wulff steht seit Wochen wegen mehrerer Affären in der Kritik. Er war erst am Mittwochabend von einem dreitägigen Staatsbesuch in Italien zurückgekommen, bei dem er sich um Normalität bemüht gezeigt hatte. Zuletzt hatten sich aber immer weniger Koalitionspolitiker offen hinter Wulff gestellt.
Rhoenblicks Kommentar:
Besser spät als nie. In Deutschland hat die 4. Gewalt – Zeitungen und Fernsehen – ihre Aufgabe wahrgenommen und erfüllt.
In der Schweiz mangelt es den Zeitungen am Biss. In der Affäre Hildebrand war dies leider deutlich erkennbar. Nur dank der „Weltwoche“ wurden das Fehlverhalten unseres obersten Währungshüters, das Versagen des Bankrats und gewisser Bundesräte (w./m.) nicht unter den Tisch gekehrt.